Jakobsweg Tag 95: Chillen oder nicht chillen, das ist hier die Frage!

Cajarc – Varaire (ca. 26 Kilometer)

Gestern Abend war ja noch was. Zum einen sehr überraschend, dass der Betreiber neben Besitzer, Hausmädchen, Hausmeister und Gärtner auch noch der Koch seines Hotels ist (und ein nichtmal schlechter) zum anderen leicht mühsam, mit einem deutschen Pärchen, welche darauf bestanden, dass ich mich zu ihnen setze. Sie waren ja ganz nett, aber ich musste mir den ganzen Abend Geschichten anhören, wie toll sie nicht sind. Den spanischen Jakobsweg habe sie natürlich schon gemacht, aber der Weg von Le Puy sei viel anstrengender, umso bewundernswerter sei es, dass sie gestern 25 Kilometer gegangen sind. An dieser Stelle warf ich dann kurz mal ein, dass ich bereits 2000 Kilometer hinter mir habe. „Für sowas haben wir keine Zeit, wir gönnen uns nur 3 Wochen Urlaub im Jahr, denn wir sind so sehr damit beschäftigt Menschen zu helfen.“ Sie war Hebamme und er Zahnarzt. Als dann ein südafrikanisches Pilgerpaar, welches inzwischen hinter uns Platz genommen hatte und selbstredend sofort in die Prahlereien miteinbezogen wurde, nachfragte wie man denn als Zahnarzt zur Stütze der Menschheit werden könne, kam sofort: „Mein Mann behandelt Bedürftige natürlich umsonst!“. Keine Frage, eine ehrenhafte Sache, sofern sie denn stimmt. Allerdings erweckte das Paar mehr den Eindruck, als täten sie das alles nur um angeben zu können. Immerhin wurden sie etwas kleinlauter, als das südafrikanische Paar nebenbei erwähnte, dass sie vor kurzem ihre Farm mit 1000 Angestellten verkauft haben. Wie auch immer, ich wollte euch diese Erfahrung keinesfalls vorenthalten 😀

Gleich beim ersten Blinzler in der Früh wird mir klar: das wird heute nichts mit zeitig aufstehen. Der Wein von gestern Abend sitzt noch tief in den Knochen und ich komme nur langsam in die Gänge. Tatsächlich überlege ich sogar noch einen Pausentag anzuhängen. Da frage ich lieber zuerst meinen Körper. Kopf sagt: schlafen. Bauch sagt: liegen bleiben. Füße schreien: WEIIIITEEEEEEEERRRR. Na gut, ich will ja nicht den ganzen Tag angeschrien werden, also keine Pause mehr.

Laut Wetterbericht soll um 9 ein Gewitter niedergehen, aber als ich um 8 aus der Tür rausgehe, ist nicht eine einzige Wolke am Himmel. Stört mich herzlich wenig, wenns nicht regnet 😀 Die Tür zur Rezeption ist offen, also sage ich dem Besitzer nochmal auf wiedersehen. Ein sehr herzlicher Mensch. Dabei drückt er mir eine Visitenkarte von Freunden von ihm in die Hand. Sie betreiben in Varaire eine Herberge und sprechen sogar deutsch. Hmmm, eigentlich wollte ich eine Ortschaft weiter, nach Bach, aber das scheint mir ein guter Kompromiss mit mir selbst zu sein, wenn ich schon in Chillerlaune bin.

Und so startet der Wandertag. Bis auf den Ausstieg aus dem Lot-Tal gibt es heute kaum merkliche Höhenmeter zu bewältigen. Ich treffe Jean-Luc, welcher mich sofort an Captain Picard von Star Trek erinnert, laufe vor eine Gruppe Jugendlicher davon, welche laut gröhlend offenbar einen Tagesausflug am Jakobsweg machen und nutze meine spärlich gestreuten Pausen um meinem Körper Nährstoffe aller Art zuzuführen.

Ein uralter, weißer Renault Clio hält plötzlich neben mir auf einer Freilandstraße. Ich bin mir sicher, dass ich jetzt verschleppt werde. Auch wenn ein 3-türiger Renault Clio sicher nicht die beste Wahl für ein Kidnapomobil ist. Ein französischer Bauer textet mich zu, aber der Beifahrer scheint schnell zu merken, dass ich keine Ahnung hab, was sie von mir wollen. Der Beifahrer dürfte selbst Pilger sein, seinem englischen Akzent nach vermutlich Australier. Er hat seine Geldbörse verloren und wollte wissen, ob ich sie gesehen hätte. Ehrlich gesagt habe ich nicht sonderlich auf den Weg geachtet, ich war die meiste Zeit tief in Gedanken versunken. Also muss der arme Teufel wohl die Etappe nochmal in die andere Richtung gehen. Und auf eine Distanz von etwa 23 Kilometer etwas zu suchen stelle ich mir nicht so lustig vor.

Von diesem beinahe Kidnap Erlebnis musste ich mich erstmal erholen. Zum Glück mangelt es in Frankreich nicht an verfallenen Steinmauern, die immer wieder mit einer günstigen Sitzgelegenheit locken. Da kommt ein junges Mädel ums Eck. Ich habe sie heute schon paar Mal gesehen, war mir aber nie sicher, ob ich ein Gespräch anfangen will. Sie, Florine, ergreift die Initiative und ich lade sie ein neben mir Platz zu nehmen. Die angehende Ärztin braucht eine Pause von der Lernerei und geht 3 Wochem am Jakobsweg. Ohne fixes Ziel. Wir gehen die letzten Kilometer gemeinsam, sie will weiter nach Bach. Wieder überlege ich kurz, ob ich wirklich schon Halt machen will, aber es ist erst 16:30 Uhr und ich hätte heute mal wirklich Zeit mich gemütlich frisch zu machen und einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen. Und so trennen sich unsere Wege.

Ich frage nach einem freien Bett, natürlich unter Erwähnung der Empfehlung aus Carjac. Die Niederländer, welche die Herberge betreiben, sprechen ausgezeichnet deutsch und ich bekomme alles gezeigt. Es gibt für heute nur eine Reservierung, deshalb kocht er diesen Abend nicht. Aber die Stadt hat eine günstige Pizzeria, wo ich mich anfuttern werde.

Allem Anschein nach hat der Besitzee die andere Pilgerin und mich in getrennten Räumen untergebracht. Sprich sofern nicht noch unerwartete Gäste eintreffen, was eher unwahrscheinlich ist, immerhin haben wir es schon nach 19 Uhr, habe ich das ganze Zimmer für mich allein 🙂

In diesem Sinne mache ich mich mal auf den Weg zur Pizzeria. Mahlzeit!