Jakobsweg Tag 96: Die Gedanken sind frei

Varaire – Cahors (ca. 33 Kilometer)

Fast wie geplant stehe ich um 6:45 Uhr auf. Es war in der Nacht so unglaublich heiß, dass ich erst sehr spät einschlafen konnte. Leider war es total windstill, sodass ich die meiste Zeit einfach schweißgebadet im Bett gelegen bin. Meine Zimmernachbarin bricht bereits auf und verabschiedet sich von mir. Da ich ja nicht frühstücke, aber angesichts der langen Etappe heute einen kleinen Energieschub will, schieße ich mir eine Dose Cola ein. Und los gehts!

Nach 6 Kilometern muss ich gezwungenermaßen eine Pause einlegen. Meine Blase an der Zehe meldet sich wieder und will versorgt werden. Währenddessen beobachte ich 2 riesige Fliegen, die aber ziemlich bunt sind, wie sie sich in der Luft bekämpfen. Oder Liebe machen. Was verstehe ich schon von Insekten.

Es wird relativ schnell heiß und diesmal gibt es leider keinen Schatten. Die heutige Etappe ist relativ eben und ziemlich unspektakulär was die Landschaft angeht. Auch wenn der Weg (leider fast die gesamten 33 Kilometer lang) von Geröll überzogen ist und etwas Aufmerksamkeit verlangt, wäre das eigentlich die ideale Zeit für ein Hörbuch. Trotzdem ist mir nicht nach Hörbuch, ich möchte viel lieber meine Gedanken baumeln lassen. Ohne mich zu fokussieren, lasse ich mich überraschen, was mir so in den Sinn kommt. Interessanterweise drehen sich meine Gedanken zum ersten Mal NICHT um mein altes Leben. Es geht nicht darum was hinter mir liegt, nicht darum ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe und auch nicht darum was ich nach meinen Reisen „mit meinem Leben anfangen“ soll. Ich habe zum ersten Mal konkrete Vorstellungen von dem was ich will. Und zwar wirklich tun will, unabhängig von den Faktoren Geld und Zeit. Dabei geht es um Entdeckungsreisen, Kulturen, die ich erleben möchte, Tätigkeiten, die ich lernen möchte, Wissen, welches ich erlangen will… und natürlich „das Buch“ zu schreiben, von dem ich seit meiner Jugend träume. Und diesmal ausschließlich mit dem Hintergedanken es zu tun. Ohne mir Sorgen darüber zu machen ob ich damit Geld verdienen kann und wie lange das Schreiben dauert. Wenn ich mit 80 das Buch veröffentliche und selbst nur ein Leser Gefallen daran findet, bin ich für einen Moment der glücklichste Mensch der Welt.

So lege ich Kilometer um Kilometer zurück. Obwohl es verdammt heiß ist, möchte ich meine Pausen weiter reduzieren. Der Ehrgeiz hat mich gepackt und mich interessiert wie schnell ich an meinem Ziel sein kann. Während ich vor mich hintrabe, sehe ich in der Ferne eine Frau mit einer Profi-Kamera Fotos von mir machen. Ich zeige meine Schokoseite und lege ausreichend Coolness an den Tag um minimal den Eindruck zu erwecken als sei ich es gewöhnt, dass hinter jedem Baum ein Paparazzi lauert um ein Foto von mir ergattern zu können. Mit meinen rudimentären, aber stetig wachsenden, Französischkenntnissen, meine ich zu verstehen, dass sie wohl eine Ausstellung über Wanderer plant und deshalb meine schriftliche Einwilligung benötigt. Erst bin ich etwas stutzig, aber mir wird mündlich bestätigt, dass für mich keine Verpflichtungen entstehen. Und spätestens als ich unter den Formularen den Namen der Pilgerin von der letzten Herberge sehe, sind die Zweifel verflogen. Mein Start in die Welt der D-Promis!

Kurz darauf treffe ich eben besagte Mitpilgerin, welche zumindest ein paar Worte englisch spricht, und lasse mir von ihr bestätigen, dass ich alles von der Fotografin korrekt verstanden habe. Ein bisschen bin ich schon stolz, dass ich mit dem Französischen inzwischen echt gut klar komme… wenns ums verstehen geht. Unsere Wege trennen sich aber bald wieder. Bei einem kurzen Anstieg braucht sie eine Pause. Ihr ist schlichtweg zu heiß.

Ein paar Kilometer später finde ich ein gemütliches Schattenplätzchen und gönne mir mehrere Müsliriegel. Zu trinken habe ich leider nichts mehr. Mit der Einteilung hat das bei der Hitze nicht so gut funktioniert. Da kommt Florine anspaziert. Sie hat ihren halben Liter schon längst ausgetrunken. Finde ich ja schon fast verantwortungslos. Auf einer Strecke ohne Trinkwasser nehme ich immer mindestens 3 Liter mit. Bei dem Wetter sollte ich eigentlich sogar mehr dabei haben. Aber laut ihrem Reiseführer sollte bald ein Wasserhahn kommen. Ich folge ihr um auch meinen Vorrat aufzufüllen. Während sie eine längere Pause machen will, gehe ich weiter. Und treffe Frederic. Der Lehrer nutzt die Ferien um sich ein bisschen am Jakobsweg auszutoben. Viel weiter kommen wir in unserem Gespräch nicht, denn er folgt nicht dem offiziellen Jakobsweg, da der letzte Abschnitt ziemlich hart sein soll. Und weil ich nunmal ein ganz harter bin, werfe ich mich dem … naja Berg kann man nicht sagen… Hügel entgegen.

Also vom Gelände her ists nicht so schlimm… ABER… 10 Kilometer lang bergauf und knallende Sonne. Kein einziger Schatten. Das war schon ziemlich grenzwertig. Beim einzigen Baum, den ich finden konnte, gönne ich mir eine Pause in dem kleinen Fleckchen Schatten, den er wirft. Nur weil ichs heute noch nicht erwähnt habe: Der Buff macht das Leben so sehr einfacher! Kein Schweiß mehr am Kopf. Bergauf bei mehr als 30 Grad. Kein Tropfen. Definitiv nie mehr ohne!

Wer bergauf geht, muss auch bergab gehen. Mein Lieblingsspruch beim Wandern. Ein steiler, aber asphaltierter, Abstieg bringt mich nach Cahors. Kurz war ich irritiert, denn ich hatte nur noch 2 Kilometer, bis ich mitten in der Stadt stehe, aber ich kann noch nicht mal ein Haus sehen. Plötzlich lichtet sich die Allee, das Gefälle legt noch eine Schippe drauf und Cahors breitet sich zu meinen Füßen aus. Als hätte die ganze Stadt nur auf meine Ankunft gewartet.

Für heute habe ich mir ein Hotel mit Klimaanlage reserviert. Mir war den ganzen Tag so unglaublich heiß, da habe ich mir das verdient. Zwar ging ab und zu ein nichtmal schwacher Wind, aber der wehte nur noch heißere Luft entgegen.

Schnell alles aufs Zimmer bringen und dann was essen gehen. Mir hängt der Magen durch. Wen treffe ich, als ich vor die Tür trete? Die Frau des deutschen Ehepaars, welche mit ihren Geschichten nur so um sich geschmissen haben. Für einen kurzen Plausch bin ich zu haben, will mich aber relativ rasch verabschieden, weil der Hunger wirklich schon riesig ist. „Oh, wir wollten auch grad essen gehen, wollen wir gemeinsam essen?“… Kurz läuft mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Aber der erste Eindruck täuscht ja oft, also lasse ich mich darauf ein. Vielleicht habe ich ihnen ja Unrecht getan. Und was für ein Unrecht! Silke und Hartmut sind ein sehr liebenswertes und äußerst pflegeleichtes Paar. Ohne Diskussionen, wohin wir essen gehen sollen, setzen wir uns an einen einfachen Kebabstand. Wir unterhalten uns so gut, dass wir danach sogar noch auf eine Flasche Wein (auf die ich dankenswerterweise eingeladen werde) in eine Bar wechseln. Irgendwie finde ich es nun sogar schade, dass ihr Weg am Jakobsweg zu Ende ist und wir uns nicht mehr sehen werden. Da wäre definitiv noch die eine oder andere Flasche Wein an dem einen oder anderen Abend gefallen.

Ein wirklich gelungener Abschluß für so einen anstrengenden Tag.