Flashback

Heute (oder gestern? bei 12 Stunden Zeitunterschied ist das nicht so eindeutig) vor einem Jahr, habe ich den Te Araroa in Neuseeland beendet. Es war ein richtiges Ende. Im Gegensatz zum Jakobsweg, wo ich in Finisterre auf das Meer starrend über den Sinn des Weges philosophiert habe und wie es nun weiterginge, war ich am Stirling Point in Bluff wirklich froh, dass der Trail vorbei ist.

Es war viel Abenteuer, Freundschaft, Lebenserfahrung, Selbsterkenntnis, Anstrengung, Schweiß und Blut im Spiel auf den 3000 Kilometern quer durch Neuseeland. Aus gegebenem Anlass, dazu kommen wir gleich, habe ich den Titel „Flashback“ gewählt. Diese Bezeichnung passt in vielen Ebenen zu meiner aktuellen Gefühlswelt.
Einerseits vermisse ich die Freiheit und Einsamkeit in der Natur. Das Gefühl alles tun zu können, die endlose Emotionsvielfalt. Auf der anderen Seite gibt es vieles, das ich nicht ansatzweise misse und so schnell nicht wieder brauche. Ich möchte euch anhand eines Rückblicks in die sehr nahe Vergangenheit in geschichtlicher Erzählung dieses Thema näher bringen:

Samstag, 01.02.2019. Erstaunliche 17 Grad über Null zeigt das Thermometer an. Strahlender Sonnenschein und kaum Wind. Perfektes Wetter für eine Wanderung. Oder spazieren gehen plus. Der Terminus „wandern“ hat für mich anhand der gewonnenen Erfahrungen eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
Ich entscheide mich jenen Weg zu begehen, welcher mir vor meiner Auszeit als Trainingsroute dienlich war. Den Pfad kenne ich in- und auswendig, schließlich war ich dort dutzende Male in voller Montur unterwegs gewesen. Damals hatte ich noch den wahnwitzigen Gedanken, dass man sich auf Weitwandern tatsächlich vorbereiten könne. Also fahre zum bekannten Startpunkt, stelle mich auf den gewohnten Parkplatz und spaziere los. Ein Hörbuch soll mir helfen tief in meine Gedankenwelt einzudringen und die Seele einfach baumeln zu lassen.

Es ist wirklich sehr warm. Bald schon bin ich nur im Shirt unterwegs und bereue es, keine kurze Hose angezogen zu haben. Mir wird heiß und langsam bildet sich der altbekannte Wander-Schweißfilm. Etwas, das ich gänzlich vergessen habe. Jeden Tag komplett klatschnass zu sein.
Dennoch genieße ich es die Kilometer raschen Schrittes abzugehen.
Als ich den Waldabschnitt meiner Tour betrete und mir der erfrischende Duft nassen Holzes und winterlich-frühlicher Klarheit in die Nasenlöcher schießt, kommen mir beinahe die Tränen. Ach wie sehr vermisse ich es draußen zu sein und in Sorglosigkeit den Tag zu beschreiten. Mir wird erst jetzt klar, wie frei mein Geist war und wie sehr er jetzt wieder in Ketten liegt. Gebunden durch die Pflichten des Alltags.

Je weiter ich komme, desto mehr frage ich mich wie ich nur jemals damit aufhören konnte weiter zu wandern. Warum bin ich wieder zurück gekommen? Wieso nicht weiter? Das bisschen Schnee? Der Regen? Der Wind? War es denn wirklich so schlimm gewesen?
Der Weg biegt in einen nicht gewarteten Forstabschnitt ein. Sofort stehe ich knöcheltief im Schlamm. Ahja, das ist etwas, das nicht nicht vermisst habe. Jeden Tag nasse Schuhe, schlammige Socken und von oben bis unten komplett eingesaut zu sein.
Der Pfad wird zunehmend flüssiger und ich rutsche bei jedem Schritt weg. Oh Gott ja, wie sehr habe ich das gehasst. Oft musste ich stundenlang kämpfen um nur wenige Kilometer weiter zu kommen. Jeder Schritt klebt, kein trockener Fleck, auf dem man sich für eine Pause hätte niederlassen können. Alltag in Neuseeland.
Mir fällt eine Abzweigung auf, welche ich als Abkürzung in Erinnerung habe. Ohne groß zu überlegen, begebe ich mich rasch wieder auf Asphalt. Ja stimmt. Zehn Stunden lang durch Schlamm zu waten. Brauche ich nicht mehr zwingend.

Zwiegespalten sitze ich im Auto auf dem Weg nach Hause. Vermisse ich das Wandern nun oder nicht? Ich bin unschlüssig. Ich denke mir fehlt mehr die Freiheit. Inzwischen habe ich viel um die Ohren, muss oft (auch in meiner Freizeit) an die Firma denken und was noch zu erledigen ist. Da ist im Kopf kein Platz um über das Leben zu philosophieren.

Selbst als ich Abends im Bett liege, denke ich noch viel darüber nach. Ein langsam aufgezogener Wind hat sich zu einem regelrechten Sturm entwickelt. Der am Balkon an die Wand gelehnte Stuhl klopft mit einem Bein wie ein Metronom an das Balkonfenster. Es schüttet abartig.
Irgendwie ist es doch ganz schön, ein Dach über dem Kopf zu haben.