Jakobsweg Tag 105: Ein Freund geht

Nogaro – Aire sur l’Adour (ca. 29 Kilometer)

Mein Plan war es etwa eine Stunde vor Martin wegzugehen, damit er mich langsam einholen kann. Allerdings bin ich nach wie vor hundemüde und hab bewusst unterbewusst den Wecker weggedrückt. Nachdem wir beide ein bisschen rumgrummeln, kommen wir schließlich um 9 raus.

Weil ich mehr humple als gehe, verabschieden wir uns gleich zu Beginn des Weges mit einer herzlichen Umarmung. Martins Vorsprung wird immer größer und allmählich verschwindet er aus meinem Sichtfeld.

Ich versinke komplett in Gedanken und bekomme gar nicht mit, dass ich bereits 10 Kilometer auf meinem Tagestacho habe. Zeit für eine Frühstückspause. Während ich am jausnen bin, beobachte ich einen Kolibri, der eilig von Blüte zu Blüte rast. Hat auch Hunger der Kleine 🙂

Nun bin ich ja wieder alleine unterwegs und weils heute hauptsächlich über Asphalt geht (was wirklich megalangweilig ist) mache ich mir wieder ein Hörbuch an. Also eigentlich DAS Hörbuch, bin noch immer bei Herr der Ringe Teil 1 😀

Und so schlendere ich vor mich hin. In gemütlichem Tempo. Es ist zwar sehr warm, aber nicht so richtig heiß, was den Tag im Verhältnis zu den letzten 2 Wochen angenehm macht. Plötzlich stehe ich vor einem Hindernis der ungewöhnlichen Art. Es werden hier in der Gegend selbstfahrende Beregnungsanlagen für die Felder verwendet. Diese Dinger sind ziemlich lang, würde schätzen irgendwas zwischen 100 und 200 Meter, aber auch sehr hoch. Sie fahren quer durchs Feld und eben auch über die Feldwege. Und weil sie so hoch sind, erzeugen sie quasi ein Regenfeld. Weil keine Aussicht darauf besteht hier irgendwie trocken durchzukommen, hoffe ich, dass es nur Wasser ist und freue mich über die Erfrischung.

Der ausgeschilderte Jakobsweg und der Weg laut Reiseführer trennen sich. Auch wenn ich dem Führer viel Vertrauen entgegenbringe, folge ich aus Bequemlichkeit lieber den Schildern. Wie sich herausstellen sollte war das eine gute Entscheidung! Die Schilder bringen mich zu einem großen und schattigen Picknickplatz. Und wer sitzt dort? Martin! Offenbar habe ich, gedankenversunken wie ich war, ziemlich an Tempo zugelegt. Wir machen eine längere Pause und gehen ein letztes Mal gemeinsam am Camino.

In Aire sur l’Adour angekommen, müssen wir uns nun endgültig verabschieden. Diesmal fällt mir der Abschied deutlich schwerer. Obwohl wir uns noch nicht so lange kennen, es müssten jetzt mindestens 3 Wochen sein, wenn nicht sogar 4, ist mir Martin nicht nur ans Herz gewachsen, er hat auch einen großen Einfluss auf meine Sicht der Dinge gehabt, mir komplett neue Perspektiven eröffnet und mit seiner Selbstverständlichkeit, mit der er durchs Leben geht, eine gewisse Vorbildrolle eingenommen. Für mich ist aus der flüchtigen Bekanntschaft am Jakobsweg eine tiefe Freundschaft entstanden, welche hoffentlich noch viele Jahre anhält.

Um den Trennungsschmerz zu überwinden, hole ich mir einen Kilo Marillen, was auch gleich mein Abendessen wird. Heute werde ich mal früher ins Bett hüpfen, denn morgen gibt es wieder eine längere Etappe zu bewältigen und weil ich es ohne Pausentag zur spanischen Grenze schaffen will, muss ich mir meine Kräfte gut einteilen.

In diesem Sinne wünsche ich Martin eine gute Heimreise und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen!