Sahagún – Reliegos (ca. 31 Kilometer)
Mir ist eingefallen, dass ich euch gestern eine kleine Story unabsichtlich vorenthalten habe. Kurz vor Sahagún ging vor mir eine Pilgerin in hautengen Shorts und mit einem sehr knapp geschnittenen Top. Da habe ich bereitwillig an Tempo zugelegt und bin allmählich näher gekommen. Als ich dann nah genug dran war um einen Blick auf den wohlgeformten Hintern erhaschen zu können, vielen mir die Haarstoppel an den Beinen auf. Aber gut, finde ich nicht schlimm, immerhin sind wir ja am pilgern und nicht auf einem Schönheitswettbewerb. Ich setze zum Überholen an und stelle mich darauf ein eine Konversation zu starten. Ein vorsichtiger Gruß lenkt die Aufmerksamkeit auf mich. Der Besitzer des prachtvollen Gesäßes ist ein Vollbartträger mit schulterlangen Haaren. Es war mir kurz ein bisschen peinlich, aber zu meiner Verteidigung… die Hotpants haben seinen Hintern wirklich erstklassig in Szene gesetzt!
Der Wecker läutet. Es ist früh… zu früh! Spontan entscheide ich mindestens zwei Stunden länger zu schlafen. Laut Wetterbericht soll es heute wieder nicht so heiß werden, was meine Entscheidung festigt. 8 Uhr ist eine christliche Zeit, da kann man losgehen.
Weil ich ja mittlerweile weiß was es heißt die Meseta abzuwandern, stelle ich mich auf 30 Kilometer schnurgerades, brettlebenes Wandern neben einer Straße ein. Dafür lege ich mir auf Empfehlung meines Bruders „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Harari auf, welches ich gestern Abend noch vorsorglich runtergeladen habe. Mit Elon Musks Biographie bin ich inzwischen durch. Ein tolles Audiobook, welches mit 13 Stunden eine fast ideale Länge für eine Biographie hat um nicht in Langatmigkeit zu verenden. Kann ich jedem empfehlen, der wissen will was es bedeutet alles auf eine Karte zu setzen um seinen Traum zu verwirklichen.
Nach 10 Kilometern mache ich eine Frühstückspause. Als ich gefragt werde wo ich herkomme, nutze ich die Chance um in Selbstbeweihräucherung aufzugehen und erwähne natürlich, dass ich auch in Österreich gestartet bin. Ich mache das gerne und oft. Natürlich frage ich mich dann schon mal selbst ob das Prahlerei ist. Vermutlich zumindest ein bisschen. Aber ich bin auch wirklich stolz darauf mittlerweile fast 3000 Kilometer hinter mir zu haben. Und ich denke man hat auch das Recht darauf diesen Stolz in die Welt hinaus zu tragen. Geht es mir dabei um Anerkennung? Ich würde lügen, wenn ich diese Frage verneine. Dennoch glaube ich nicht, dass das meine Hauptmotivation ist um mit meiner Geschichte hausieren zu gehen. Ich fühle mich ein bisschen als Missionar, der versucht den Menschen den Pfad zur Erleuchtung zu zeigen. Oft bekomme ich auf meine Frage warum sie denn auf dem Camino sind irgendeine spirituelle Antwort. Selbstfindung, das Leben neu entdecken und so weiter. Gerade weil ich weiß wie es ist wirklich alleine zu gehen, maße ich mir an zu behaupten: Der Camino Frances ist der falsche Weg dafür. Zu viele Menschen, zu einfacher Weg, zu wenig… man selbst. Für mich war es die Kombination aus physischer Anstrengung und psychischer Einsamkeit, welche mir Augen und Geist geöffnet hat. Vielleicht kann man diesen Zustand der Freiheit auch mit den 300 Menschen erreichen, die sich im Umkreis von einem Kilometer um einen befinden, kann ich mir persönlich aber nur schwer vorstellen.
Nachdem ich den Italiener vielleicht nicht geläutert, aber zumindest begeistert habe, gebe ich mich wieder Harari und den endlosen Weiten der Meseta hin.
Das Hörbuch macht einen sehr sachlichen ersten Eindruck, gewährt aber unter aller Oberflächlichkeit tiefe Einblicke in die kognitive Entwicklung des Menschen. Der Grundgedanke der ersten Kapitel „Jegliches nicht physische Konstrukt existiert nur, weil es Menschen gibt, die daran glauben“ trifft genau meinen Nerv. Staaten, Religion, Wirtschaft… alles wurde als Idee geboren und besteht weiterhin weil die Menschheit daran glaubt. Und auch ein Anwalt macht nichts anderes als ein Schamane bereits vor tausenden von Jahren getan hat: Er spricht Zaubersprüche aus seinem magischen Buch. In diesem Fall um die Glaubensgemeinschaft der Rechtsstaatlichkeit zu vertreten. Danke Bruderherz für die Empfehlung, ich liebe das Buch jetzt schon heiß 🙂
Bei meiner Mittagspause an einer Bar treffe ich einen ganzen Haufen Amerikaner, welche den restlichen Weg gemeinsam gehen wollen. Heute habe ich aber Lust alleine zu gehen, außerdem sind sie mir als Gruppe schlichtweg zu laut.
In Reliegos schließe ich mich dann wieder an. Wir trinken ein Bier in einer offenbar berühmten Bar. Eine der Amis, Laura, erzählt, dass diese Bar im Film „The Way“, mit Martin Sheen, zu sehen war. Alle Wände, sowohl innen als auch außen, sind komplett zugekrixelt mit Sprüchen, Namen und Daten von Pilgern aus aller Welt. Der Barkeeper ist klein, spindeldürr, tätowiert und stolzer Träger von drei schwarzen… Zähnen. Dieser Ort ist allemal besonders. In vielen verschiedenen Betrachtungsweisen 😀
Ein Pärchen spaltet sich von der Gruppe ab, sie sind hobbymäßig Leistungssportler und wollen heute die 60 Kilometer voll machen. Übrigens joggen sie am Vormittag die ersten zwei Stunden immer um warm zu werden. Die sind verrückt 😀 Jeff, welcher auch Teil der Gruppe war, geht zu seiner Unterkunft. Vier der Amerikaner haben ein Zimmer in der Herberge, wo auch ich mich einquartiert habe.
Beim gemeinsamen Abendessen wird eifrig über Religion diskutiert. June ist Priester und liefert damit die Basis für die Gespräche. Ich bin offensichtlich der einzige Atheist am Tisch und halte mich lieber ein bisschen zurück. Wobei ich mich selbst eigentlich gar nicht als Atheist bezeichnen würde. Ich glaube nicht an nichts. ich glaube an die Wissenschaft und solange die Wissenschaft die Existenz eines Gottes weder beweisen noch widerlegen kann, halte ich mir alle Optionen offen.
Jedenfalls finde ich das Thema interessant und möchte die Gelegenheit am Schopf packen und mal mit „einem Mann vom Fach“ darüber sprechen. Deshalb haben June und ich uns für morgen in der Früh verabredet um die Etappe nach León gemeinsam zu bestreiten und hoffentlich die eine oder andere anregende Diskussion zu führen.
Achja… Clemens, danke für deinen ausführlichen Gästebucheintrag. Neue Schuhe mit Einlagen sind das erste auf meiner to do list, wenn ich den Camino durch habe. Das mit dem Zuckerwasser… na wir werden sehen 😀 Aber ich kann dich beruhigen. Mein Tagesumsatz von etwa 6-8 Litern besteht zu einem guten Teil aus Wasser. Solche uncoolen Details sind halt nur einfach nicht erwähnenswert 😉 Danke natürlich auch für die Einträge von allen anderen, feue mich immer, wenn wer was reinschreibt. Langsam kommt ja richtig Leben in die Bude!
Gut, jetzt muss ich wirklich ins Bett. Buenas Noches!