Trabadelo – Triacastela (ca. 40 Kilometer)
Das frühe Aufstehen fällt mir heute besonders leicht. Ich bin topmotiviert. Wohlwissend, dass das dies die anstrengenste Etappe wird, die ich bis jetzt gemacht habe. Oder vielleicht gerade deswegen. Es ist eine Challenge, die ich mir selbst auferlegt habe, aber ich bin angespornt sie zu bewältigen. Zudem ist die Vorfreude auf Santiago inzwischen sehr groß, wodurch ich in letzter Zeit sehr einfach aus dem Bett komme. Halb präventiv klebe ich auf die Miniblase an eine kritische Stelle meiner Ferse ein Pflaster und schon kanns losgehen.
Es ist kurz nach 5, stockfinster und arschkalt. Zum Glück habe ich vorher den Wetterbericht gecheckt und bin somit gleich direkt mit Weste in die schon fast winterlichen 7 Grad eingetaucht. Der kalte Gegenwind macht die Sache auch nicht wärmer, aber mit bisschen Bewegung wird das schon. Gleich zu Beginn meines Weges sehe ich zwei Sternschnuppen, was ich als gutes Omen für meine Wanderung deute. Gewünscht habe ich mir nichts, ich war zu sehr mit staunen beschäftigt 😀
Ein Großteil der ersten Kilometer verläuft direkt auf der Straße von Autobahnzubringern. Dank meiner Stirnlampe bin ich nicht zu übersehen und fühle mich halbwegs sicher trotz vorbeirasender LKWs. Ich bin relativ flott unterwegs und kann diesen unangenehmen Teil der Etappe rasch hinter mir lassen. Meine Zehe schmerzt etwas und eine Blase meldet sich regelmäßig. Hoffentlich komme ich damit klar, ich möchte wirklich gerne den ganzen Berg auf einmal nehmen.
Pünktlich zum Sonnenaufgang beginnt wie geplant der Aufstieg. Zuerst auf Asphalt, dann über einen steinigen Waldweg. Ich habe mir vorab La Faba schon als Pausenort festgelegt, welches ziemlich am Anfang der ersten Höhenmeter liegt. Dort sammle ich Kräfte, esse und trinke, um gestärkt den anstrengendsten Teil des Aufstiegs anzugehen. Weiter geht es wieder durch einen Wald mit felsigem Untergrund. Vor noch nicht allzulanger Zeit hätte ich solche Stellen verflucht, aber ich fliege förmlich über die Steine (nicht auf die Pappn, sondern mit Leichtigkeit 😀 ) und überhole einen Pilger nach dem anderen. Während sich die Leute hier die Seele aus dem Leib keuchen und reihenweise am Rand sitzen oder stehen um kurz zu rasten, gibt es für mich einen ganz anderen Grund stehen zu bleiben… Fotos! Die Aussicht ist herrlich und ich kann mich gar nicht satt genug daran sehen.
Der Aufstieg macht mir unheimlich Spaß, vielleicht macht Bewegung immer Spaß, wenn man nicht bereits nach 10 Metern das Gefühl hat nach einem Sauerstoffzelt fragen zu wollen? Mir ist das auf jeden Fall lieber als solche öden schnurgeraden Wege, wie ich sie ja zuhauf ertragen musste. Wobei auch die langweiligen Etappen ein Erlebnis waren. Die hatten irgendwie was meditatives.
Mir springt ein Grenzstein entgegen. Galicien! Somit wäre nach all den Bundesländern, Kantonen und französichen Regionen der letzte Abschnitt meiner Reise erreicht. Innerlich führe ich einen Freudentanz auf. Santiago ist jetzt schon zum Greifen nahe.
Nur ein kleines Stück weiter stehe ich plötzlich mitten in O Cobreiro, welches die Hälfte meiner Etappe markiert. Gleich am Ortseingang steht die älteste Kirche am gesamten Jakobsweg. Das Gebäude aus dem 9. Jahrhundert wirkt aber definitiv nicht so alt. Angeblich ist es aber wirklich das Original. Vermutlich gut saniert. Normalerweise hole ich mir nur einen Pilgerstempel am Tag, aber weil ich mich an diese Etappe auf jeden Fall erinnern will und dieser ganze Ort etwas besonderes ist, hole ich mir in der Kirche dann doch ein Stempelchen. Während mir das Innere der Kirche nicht wirklich was gibt, sticht mir ein Bücherregal ins Auge, wo unzählige gut beleuchtete und aufgeschlagene Bücher liegen. Genau gesagt handelt es sich nur um ein Buch, die Bibel. Das Besondere: sie liegt in unglaublich vielen Sprachen auf. Neben Englisch, Spanisch und Französisch, findet man unter anderem auch Arabisch, Navajo, Latein und sogar die Blindenschrift. Auch wenn ich kein religiöser Mensch bin, diese Idee finde ich herrlich!
Was O Cabreiro so einzigartig macht, ist eine Kombination aus mehreren Dingen. Allen voran steht der ganze Ort unter Denkmalschutz. Nicht nur wegen der Kirche, auch wegen den sogenannten Pallozas. Die ovalen Steinhäuser mit Strohdächern stehen nach wie vor in der Ortsmitte, sind aber nicht mehr bewohnt. Und der Erfinder der typischen gelben Pfeile, die den Jakobsweg markieren, war hier Pfarrer. Also natürlich hat er den gelben Pfeil nicht „erfunden“ im eigentlichen Sinn, aber die Verbreitung durchgesetzt.
Hier im Ort mache ich eine längere Pause und fühle tief in mich hinein, ob ich die nächsten 20 Kilometer noch durchhalte. Also eigentlich… fühle ich mich wie frisch aus dem Bett. Na dann hoppauf!
Der weitere Weg ist von wechselndem bergauf und bergab geprägt und führt unter anderem an einer riesigen Pilgerstatue vorbei. Sie zeigt einen Pilger, der gegen stürmisches Wetter ankämpft. Ironischerweise herrscht strahlender Sonnenschein und es ist nicht eine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Eigentlich hatte ich bis jetzt in ganz Spanien Glück mit dem Wetter. In der Meseta hatte ich nur 2 oder 3 wirklich heiße Tage, danach war es selbst am Nachmittag halbwegs erträglich und jetzt in dem für Regenwetter bekannten Galicien herrscht angenehmes Sonnenwetter bei bequemen 25 Grad. Kann man definitiv schlimmer erwischen 😀 Trotzdem schieße ich ein Foto vom kämpfenden Pilger. Unabsichtlich passiert mir ein Schnappschuss direkt in die gleißende Sonne. Dadurch sind nur die Umrisse der Statue zu erkennen. Sofort macht mich das Foto nachdenklich. Ist es nicht eigentlich genau das? Wir alle sind Pilger, die sich ihren Weg nach Santiago bahnen. Und die meisten von uns haben gegen etwas anzukämpfen, auch wenn es nicht immer das Wetter ist. Das verbindet uns, wir sind alle gleich. Jeder von uns ist „der Pilger“, eine gesichtslose Gestalt, deren Umriss wir wahrnehmen können, aber die Details sich nur erkennen lassen, wenn man die Augen zusammenkneifft und wirklich ganz genau hinsieht. Wenn ich jemals bei einem Foto den Drang verspürte ihm einen Namen geben zu müssen, dann bei diesem hier. Ich nenne es: Blick in die Seele.
Der Aufstieg ist noch immer nicht vorbei. Das letzte Stück ist richtig steil, aber zumindest asphaltiert. Endlich stehe ich am allerletzen Pass, den es am Jakobsweg zu queren gilt. Ab sofort geht es bergab. Der Weg ist sehr einfach zu begehen und bis auf einige wenige steile und steinige Stellen schnellen Schrittes zu bewältigen. Vorsorglich lege ich bei jedem zweiten Ort eine kurze Pause ein, trinke mindestens einen halben Liter und esse eine Kleinigkeit. Langsam aber sicher spüre ich nämlich einen Kraftverlust.
Ich hören schon den ganzen Tag zum zweiten mal „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling. Ich kann absolut nicht sagen warum, aber das Buch passte meiner Meinung nach dermaßen gut zu dieser Etappe, da musste ich es mir einfach nochmal anmachen. Während ich gedankelos weiter bergab gehe, stellt Hape die Frage: „Warum bin ich Pilger?“. Das ist in der Tat eine gute Frage. In erster Instanz würde ich antworten: „Um mich physisch auf noch anstrengendere Wege vorzubereiten.“ Mittlerweile ist aber mehr daraus geworden. Neben der physischen Vorbereitung auf Wanderwege, ist es auch eine psychische Vorbereitung auf den Lebensweg. Ich habe mich in den letzten Monaten oft gefragt „Was will ich?“ oder „Wo will ich hin?“. Dabei fällt mir auf, dass ich mir nie die Frage gestellt habe „Wer bin ich?“. Eigentlich ist das doch eine sehr grundlegende Frage, die aber gar nicht so einfach zu beantworten ist. Vielleicht fragen wir uns zu oft wer wir gerne wären und zu selten wer wir eigentlich sind. Wir beschäftigen uns oft mit der Zukunft, manchmal mit der Vergangenheit, aber viel zu selten mit der Gegenwart. Das ist die Frage, die ich mir auf meinen nächsten Wanderweg mitnehme. „Wer bin ich eigentlich?“.
Das Ziel kommt näher, Triacastela ist schon in Sichtweite. Keine Sekunde zu früh. Die ersten Erschöpfungserscheinungen treten auf. Leichte Ansätze von Krämpfen in den Waden, kurzes frösteln bei wohligen 25 Grad. Auch, wenn ich nicht glaube, dass ich mich übernommen habe, war das wohl schon dicht dran. Aber….GESCHAFFT! 40 Kilometer Distanz, 1000 Meter bergauf, 1000 Meter bergab und ich schaffe es trotzdem noch in dem Hostel, in dem ich ein Einzelzimmer habe, aufrecht an der Rezeption stehen zu können. Ich bin mächtig stolz auf mich! Spätestens jetzt bin ich mir wirklich sicher, dass ich mich raus in die Wildnis wagen kann, ohne, dass ich nach 2 Tagen wieder nach Hause fliegen will.
Weil ich um jeden Preis verhindern möchte auch nur einen unnötigen Schritt zu machen, veranstalte ich ein Resterlessen aus meinem Jausensackerl. Die 100 Meter zum Restaurant sind zu viel 😀 Als Belohnung für die Anstrengung heute, gibt es morgen eine sehr kurze Etappe mit anschließendem Aufenthalt in einem exquisiten 4-Stern Hotel inklusive Pool. Und viel wichtiger: Die Wiedervereinigung mit meiner Gruppe! Freue mich schon 🙂
Heute war ein guter Tag!