Jakobsweg Tag 143: Santiago de Compostela

Salceda – Santiago de Compostela (ca. 28 Kilometer)

Das Zimmer war so toll, kommt definitiv unter die Top 10. Leider muss ich extrem früh raus. Aber versprochen ist versprochen und so stehe ich um Punkt 5 vor der Tür.

Ich bin ausgesprochen müde und wer mich kennt weiß, dass ich absolut kein Morgenmensch bin und ziemlich unleidlich sein kann wenn ich zu wenig Schlaf bekomme. Es ist kalt und stockfinster. Und weil ich keinen Stress habe, hänge ich mich an den langsamsten der Gruppe an. In dem Fall ist es Andrea. Der Italiener hat ziemliche Schmerzen. Einige Bänder sind deutlich überbelastet und er leidet mit jedem Schritt. Wir haben eine ausgesprochen gute Unterhaltung und machen uns nichts draus, dass wir bereits weit hinter dem Rest der Gruppe liegen. Ohnehin haben wir vereinbart, dass wir spätestens vor Santiago aufeinander warten um gemeinsam in der Stadt anzukommen.

Allmählich wird es hell und sowohl Andrea als auch ich sehnen uns nach einer Pause. Gerade als wir beschließen unabhängig von den anderen einfach eine kurze Rast an der nächsten Bar einzulegen, sitzen sie dort schon wartend auf uns. Es gibt deftiges Frühstück, aber ich habe noch mein Jausensackerl von vorgestern, das muss weg.

Nach einer weiteren Pause, nur wenige Kilometer später, drängt sich in der Ferne Santiago ins Sichtfeld. Kleinen Schrittes kommen wir immer näher, die Aufregung wird größer und die ersten Tränen der Erleichterung fließen. Kurz bevor wir die Innenstadt erreichen, warten wir auf alle und dirigieren weitere Pilger, die ab und zu Teil der Gruppe waren, zu uns (die aber bereits vor uns in Santiago angekommen sind) um mit ihnen vor der Kathedrale zu jubeln. Es wird gefeiert, geweint, gehüpft und natürlich eine Menge Fotos gemacht. Wir sind da.

Seltsamerweiser ist mir aber weder nach jubeln, noch feiern, weinen oder hüpfen. Es fühlt sich auch nicht wirklich an als wäre ich irgendwo angekommen. Vielleicht stellt sich das befreiende Gefühl erst in Finisterre ein, wo mein Camino dann ja tatsächlich zu Ende ist. Gefühle, die ich aber deutlich spüre: Müdigkeit, Erschöpfung, Schmerz. Ich möchte Pausentage einlegen. Wobei wollen… ich sollte. Vorsorglich habe ich mein Hotel aber mal nur für eine Nacht gebucht.

Nach einem gemeinsamen Willkommensbier, verabreden wir uns zum Abendessen und trennen uns für ein paar Stunden. Beim Einchecken frage ich gleich, ob ich zum selben Preis für eine Nacht verlängern könnte. Ja geht, ich sage aber noch nicht zu. Das Zimmer ist optisch ok, allerdings stinkt es furchtbar nach kaltem Rauch. Hier bleibe ich definitiv keine zweite Nacht. In diesem Moment ist unterbewusst bereits die Entscheidung gefallen, dass ich morgen direkt Richtung Finisterre weitergehe. Hoffentlich machen das meine Füße mit. Die Knie schmerzen schon leicht und mein linker Fuß macht immer mehr Probleme. Der Schmerz in der großen Zehe ist erheblich besser geworden, dafür sind alle anderen Zehen taub. Vielleicht hat sich ein eingeklemmter Nerv gelöst. Würde beide Dinge erklären.

Noch bevor ich es unter die Dusche schaffe, falle ich aufs Bett und schlafe auf dem Bauch liegend mit dem Oberkörper am Bett und die Beine herunter baumelnd knappe 3 Stunden. Als ich aufwache ist es bereits zu spät um heute noch die Compostela zu holen, also die Urkunde, die bestätigt, dass ich auch tatsächlich den Jakobsweg gegangen bin. Muss ich sofort morgen in der Früh nachholen.

Astrid hat einen Tisch in einem Fischrestaurant für die ganze Gruppe reserviert. Es ist auch ein Abschiedsessen, denn einen Teil der Leute werden wir nicht wieder sehen. Bei reichlich Fisch und Wein erzählen wir uns nochmal unsere Lieblingsgeschichten und lassen das Erlebte revue passieren. Als es zum Abschied kommt, wird eifrig umarmt, geküsst, geknuddelt und sich versprochen, dass man sich im Leben nochmal trifft. So ein gemeinsamer Weg schmiedet schon zusammen, auch wenn ich nicht so eine tiefe Bindung wie zu Martin aufbauen konnte.

Jetzt liege ich im Bett und frage mich: Wie geht es weiter? Zuerst mal nach Finisterre, dann ein Tagesausflug nach Muxia und schließlich wieder zurück nach Santiago, wo ich dann vielleicht das Sightseeing nachholen werde. Wobei die Menschenmassen schon leicht abschreckend wirken. Bis zu 3 Stunden Wartezeit um in die Kathedrale zu kommen. Vermutlich werde ich eher ein paar Tage am Meer in Muxia verbringen und ein bisschen die Seele baumeln lassen als in einer Großstadt wie Santiago herumzuirren.

So, ich muss wirklich etwas Schlaf nachholen. Hoffentlich seid ihr nicht enttäuscht von der objektiven Beschreibung des Moments. Aber genau so habe ich mich gefühlt. Nach monatelangem Wandern Richtung Santiago bin ich endlich da aber es fühlte sich nicht so an als wäre ich tatsächlich angekommen. Vielleicht weil Santiago ja nicht mein eigetliches Ziel ist, ich will ja immer weiter. Vielleicht kommt die große Erkenntnis auch erst, wenn ich in Österreich aus dem Flieger steige oder das erste Mal aufwache ohne ein Etappenziel vor Augen zu haben. Wir werden sehen.

Gute Nacht.