Santiago de Compostela – Negreira (ca. 22 Kilometer)
Erstaunlicherweise fühle ich mich in der Früh im Vergleich zu gestern wie neu geboren. Auch wenn das nicht heißt, dass ich auch nur ansatzweise motiviert bin heute weiter zu gehen. Wenn ich aber wegen einem eventuellen Hotelwechsel sowieso den Rucksack packen und durch die Stadt gehen muss, dann kann ich auch gleich die vom Reiseführer vorgeschlagene kurze Etappe machen.
Zuerst einmal zum Pilgeroffice um mir die Compostela abzuholen. Die Schlange ist akzeptabel und ich reihe mich brav ein. Da sehe ich Chris zwischen den Menschen herumwuseln und winke ihm mit Charme zu. Er ist auch schon gestern angekommen und gönnt sich erstmal eine Pause bevor er, wie angekündigt, mit einem Mietwagen nach Finisterre fährt. Also gute Chancen, dass wir uns nochmal sehen. Chris verabschiedet sich um ordentlich zu frühstücken und ich bereite meine Pilgerpässe schon mal vor. Während ich mir die ganzen unterschiedlichen Stempel nochmal anschaue, und mich ein paar davon unter einem Schmunzeln an besondere Tage erinnern, höre ich hinter mir „Das sind aber viele Stempel!“. Ein Spanier in der Schlange möchte in ausnahmsweise ausgezeichnetem Englisch von mir wissen wo ich gestartet bin. Ich erzähle ihm die Kurzversion meines Camino und er klopft mir auf die Schulter und sagt schon fast ehrfürchtig: „Das ist es wie man Pilgern sollte. Solche Leute wie dich trifft man nicht mehr oft am Camino.“ Ich fühle mich sehr geschmeichelt, kann aber nicht zu 100 Prozent zustimmen. Jeder sollte pilgern wie er will.
Endlich bin ich an der Reihe. Am Schalter sitzt ein Inder mit einem wirklich niedlichen Akzent in seinem Englisch 😀 Ich gebe ihm meine Pilgerpässe und er blättert sie durch. „Das sind aber viele Stempel!“. Den Satz kann ich gar nicht oft genug hören. Gerade bin ich mächtig stolz auf mich. Er möchte kurz von mir wissen wie mein Weg war und warum ich den Camino gegangen bin. Wenn man angibt aus religiösen Gründen gegangen zu sein, dann erhält man eine schönere Urkunde. Die will ich natürlich habeb. Eines meiner Lebensprinzipien ist nicht zu lügen, also wähle ich die vermutlich nicht minder schlimme Variante und formuliere etwas drumherum. Ich antworte: „Ich suche Gott.“ Was insofern nicht falsch ist, denn ich bin ja schließlich wirklich daran interessiert was Menschen bewegt um an eine höhere Macht zu glauben. Wie etwa bei meinem Gespräch mit Father June, dem Priester aus New York. Aber der Inder lässt nicht locker „Und hast du ihn gefunden?“. Ich überlege kurz. „Die Suche nach Gott dauert ein Leben lang.“. Damit ist er zufrieden und händigt mir dir Compostela aus. Gegen einen geringen Aufpreis lasse ich mir auch noch die gegangenen Kilometer bestätigen. Laut Urkunde sind es 3100, aber ich denke es sollten etwas mehr sein. Müsste mal die ganzen Kilometer von den Blogeinträgen zusammenzählen, letztendlich macht es eigentlich keinen Unterschied. Erst jetzt, wo ich die Compostela wirklich in Händen halte, realisiere ich zum ersten Mal so richtig: Ich bin da! Ich habe es tatsächlich geschafft. 4 1/2 Monate von Freud und Leid, Schmerz und Euphorie, Hoch und Tief. Und jetzt endlich am Ziel. Also am Ziel des ersten Abschnittes meiner Reise, aber immerhin ein Ziel.
So, auf nach Finisterre! Der Weg raus aus Santiago ist ziemlich schlecht markiert und in mir kriecht schon die Befürchtung hoch, dass das jetzt für 100 Kilometer so weiter geht. Unbegründet, bald schon stehen wieder die gewohnten Pfeiler herum. Die Etappe ist zwar kurz, enthält aber mehrere steile Anstiege mit einigen Höhenmetern. Gleich beim ersten Anstieg wird mir fast schwarz vor den Augen. Hä? Warum? Ich habe reichlich getrunken und sogar eine Kleinigkeit gefrühstückt. Das Gefühl verschwindet zum Glück bald wieder, die weichen Knie bleiben aber. Bei der nächsten Pausenmöglichkeit will ich kurz rasten. Ein Colaautomat steht in der Gegend rum mit ein paar Stühlen davor. Perfekt. Ich nehme Platz und beginne ein Gespräch mit einer jungen Ungarin, die auch gerade Pause macht. Sie schaut wirklich ziemlich fertig aus und so fühlt sie sich auch sagt sie. Wenn es ihr in ein paar Kilometern nicht besser geht will sie per Anhalter nach Finisterre fahren. Da ich sie im Laufe des Tages nicht mehr gesehen habe, hat sie das vermutlich auch gemacht.
Die Ungarin geht und ein Tscheche kommt. Sein Name ist Vojta und wir verstehen uns auf Anhieb blendend und gehen von da an gemeinsam. Er ist bereits ein erfahrener Pilger, hat schon alle großen spanischen Caminos nach Santiago gemacht und ist auch bereits von Brünn nach Rom gepilgert. Eines Tages will er auch nach Jerusalem gehen um den letzten der 3 großen Pilgerwege der Christenheit abgeschlossen zu haben. Vojta ist gläubiger Christ und der erste Mensch, den ich kennenlerne, der mit seiner Freundin das „kein Sex vor der Ehe“ Ding praktiziert. Gerade in Zeiten wie diesen, wo man alles jederzeit haben kann, finde ich es sehr bewundernswert bewusst nein zu etwas zu sagen, das man sehr begehrt. Ich genieße unser Gespräch sehr, denn wir sind uns in manchen Punkten sehr ähnlich, in anderen total verschieden. Und der absolute Hammer… auch er macht nächstes Jahr den Pacific Crest Trail. Das wäre ja wirklich lustig, wenn wir uns am anderen Ende der Welt nochmal treffen würden!
Wir kommen in Negreira an, aber Vojta will noch weitergehen. Sicherheitshalber tauschen wir Kontaktdaten aus um uns vor dem PCT nochmal zusammenzureden. Ich gehe zum einzigen Hotel der Stadt um nach einem freien Zimmer zu fragen. Ein breites Grinsen läuft mir übers Gesicht. Gordon sitzt mit einem Drink vor dem Hotel. Ich freue mir beide Haxn aus 😀 Zimmer sind noch verfügbar und nach dem check-in geselle ich mich sofort zu Gordon. Wir plaudern wirklich lange, bis hinein ins Abendessen, welches wir mit einer Gruppe uns teilweise bekannten Pilgern aus einer nahen Herberge einnehmen. Ein wirklich netter Abend mit guten Gesprächen. Allgemein war der Tag sehr gelungen finde ich.
Morgen ist der letzte Tag bevor ich Meer sehe! Kann es schon kaum erwarten 🙂 Aber es soll am Nachmittag sehr heiß werden, deshalb will ich früh los. In diesem Sinne… Gute Nacht meine Lieben 🙂