Jakobsweg Tag 90: Akzeptiere den Schmerz

Estaing – Conques (ca. 35 Kilometer)

Die Matratze war einseitig abgenutzt, wodurch ich immer mal wieder fast aus dem Bett gefallen bin. Aber geschlafen habe ich eh kaum. Unser Zimmergenosse hat einen ganzen Wald gerodet. Selbst durch die Ohrhörer bei laufender Musik konnte ich das Geschnarche noch mehr als deutlich hören. Unser Wecker läutet um halb 6, wir wollen heute eine große Strecke zurücklegen.

Ich möchte euch mal ein bisschen in die Sorgen eines Pilgers einführen. Das bedeutet, dass es ab jetzt für manche von euch grauslich werden könnte. Wer ein Problem mit … ich nenn es mal… intimen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Tabuthemen hat, der sollte wohl jetzt besser aufhören zu lesen 🙂

Weiter gehts. Bevor wir losstarten muss ich noch eine Wunde an meiner Ferse versorgen und meine erste richtige Blase verkleben. Die lange Strecke bergab vorgestern und das anspruchsvolle Gelände gestern, haben nicht nur meine Gelenke sehr strapaziert, sondern auch zum ersten Mal ein „Fußopfer“ gefordert.

Die ersten Kilometer laufen sehr flüssig. Wir sind relativ eben auf Asphalt unterwegs. Allerdings grummelt mein Bauch schon die ganze Zeit… und es ist kein Hunger. Es tritt das ein, was ich einen „emergency shit“ nenne. Habe ich erst seit dem Wandern. Vermutlich weil die Verdauung mehr angeregt wird. Wenn du dringend aufs Klo musst, das nächste WC aber 2 Stunden Fußmarsch entfernt ist, bleibt dir nur der Wald. Vermutlich ist man sowieso erst dann ein richtiger Pilger, wenn man mindestens einmal in den Wald gekackt hat. Verzweifelt halte ich Ausschau nach einer Möglichkeit irgendwo von der Straße runterzukommen. Vergeblich. Kurz bevor ich beim „gleich ists mir wurscht ob mich wer dabei sieht“ Status angekommen bin, gibts dann doch die Möglichkeit ins Gebüsch zu verschwinden. Ahja. Eines der typischen Pilgerklos, die man seit Le Puy immer wieder sieht. Das Gebüsch ist übersäht mit Taschentüchern. Es ist gar nicht so einfach einen Platz zu finden ohne in eine Pilgerwurst zu steigen. Als achtsamer Wanderer habe ich natürlich einen kleinen Spaten mit, mit dem ich ein Loch schaufeln kann. Mit viel Pech kann man dann zwar immer noch reinsteigen, das Machwerk liegt aber zumindest nicht mehr offen rum. Wenn man ganz naturbewusst ist, nimmt man auch noch das Klopapier in einer luftdicht versiegelbaren Plastiktüte mit. Zwar hätte ich solche Sackerl dabei, aber bei der Masse an Taschentüchern und Klopapier, die da schon rumliegt, muss es reichen, wenn ich meine Tücher ebenfalls vergrabe.

Unsere Geschwindigkeit drosselt sich etwas, denn es geht von nun an bergauf. Meinem Magen geht es nach wie vor nicht so gut und mein Fuß schmerzt wahnsinnig. An dieser Stelle biete ich Martin an, dass wir uns trennen. Er ist so schon wesentlich schneller als ich und jetzt wo ich auch noch langsamser gehen muss, macht das nicht viel Sinn, wenn er alle paar Meter auf mich wartet. Wir machen aus, dass ich mich melde, sollte ich doch die 35 Kilometer schaffen. Martin soll sich ruhig mal austoben, er hat ohnehin sehr lange Rücksicht auf mich genommen.

Da zischt er dahin, während ich mich gemächlich und unter Schmerzen voranschleppe. Ich brauche definitiv etwas Motivation bzw. etwas, das mir hilft den Schmerz zu vergessen. Nachdem mich Martin auf Audible aufmerksam gemacht hat, eine Hörbuch App, wollte ich das gerne ausprobieren. Geschätzt 2 Stunden muss ich gehen, bis ich endlich ausreichend Empfang habe um ein Audiobook runterzuladen. Ich entscheide mich für „Der Hobbit“ von Tolkien.

Bei einer Kirche, wo es übrigens fast immt ein Bankerl gibt, finde ich einen ausgezeichneten Schattenplatz und nutze diesen für eine einstündige Mittagspause. Nach wie vor fällt mir das Gehen schwer. Mir ist immer noch übel und auch wenn das Hörbuch ein bisschen ablenkt, lässt sich der Fußschmerz nicht ganz verdrängen.

3 Kilometer weiter geht es mir richtig miserabel. Inzwischen haben wir die Tageshöchsttemperatur von 31 Grad erreicht und es ist nahezu windstill. Mein Kreislauf ist am Boden und bei einem schattigen Plätzchen lege ich mich erstmal für eine knappe Stunde hin. Dabei habe ich extra viel getrunken. Nicht nur weil ich viel schwitze, sondern auch weil ich Probleme beim Wasserlassen habe. Also genau gesagt eher danach. Ein „Restharngefühl“. Laut Dr. Google eine leichte Prostataentzündung, welche auftritt, wenn einem länger kalt ist und man zu wenig trinkt. Wird dementsprechend mit Wärme und viel Trinkwasser behandelt. Hoffentlich geht das bald weg, das Gefühl sich permanent einzumachen ist nicht so berauschend.

Das Dösen im Schatten hat Wirkung gezeigt. Ich fühle mich wieder fit. Auch der Druck im Magen ist endlich verschwunden. Zudem ist eine leichte Brise aufgekommen, welche die Hitze gleich um ein Vielfaches erträglicher macht. Ich schreibe Martin, dass er bitte für mich ein Bett reservieren soll, ich werde die Etappe wie geplant beenden.

Trotz 200 Meter Aufstieg und 300 Meter Abstieg gehen die letzten 9 Kilometer relativ leicht von der Hand. Der Wind gegen die Hitze, das Hörbuch gegen die Schmerzen. In Conques angekommen, empfängt mich Martin vor der Unterkunft. Wir habe ein 4er Zimmer für uns allein.

Erstmal die Hitze wegduschen und Wäsche waschen, dann machen wir uns sofort auf die Suche nach einem Restaurant. Nach so einer anstrengenden Etappe bettelt der Körper um Energie. Wir haben gespeist wie Könige. Vielleicht zum letzten Mal. Martin möchte sein Tempo gerne beibehalten, aber ich muss die nächsten Tage langsamer machen, vielleicht sogar eine Pause einlegen. Jetzt ist erstmal der Schönheitsschlaf notwendig. Gute Nacht!